Helen Haase ist 47 Jahre alt und wohnt mit ihrer Familie im hohen Norden, genauer gesagt im schönen Ostfriesland. Gebürtig stammt sie aus NRW aus einer Arbeiterfamilie und ist das älteste von insgesamt 4 Kindern. Nach der Grundschule sollte sie laut Schulempfehlung ihrer Klassenlehrerin auf die Realschule wechseln, aber Helen setzte sich durch mit ihrem Wunsch, das Gymnasium zu besuchen und schloss dieses erfolgreich mit dem Abitur ab. Danach begannen viele ihrer Freunde ein Studium, doch das traute sich Helen nicht zu. Vermutlich durch ihre Herkunft als Arbeiterkind fehlte ihr das Vertrauen in sich selbst und ihre eigenen Fähigkeiten und es mangelte an familiären Vorbildern und an der nötigen Unterstützung. Durch die stets angespannte finanzielle Lage im Elternhaus jobbte sie bereits während der Schulzeit u.a. jedes zweite Wochenende in der Altenpflege als Aushilfe. Ihre Mutter war beruflich tätig als Kinderkrankenschwester und so entschied auch Helen sich für diesen Weg
und begann die Ausbildung, die ihr viel Freude bereitete. Kurz vor dem Examen lernte sie ihren heutigen Ehemann kennen und wurde im Alter von 22 Jahren schwanger. Ihre Eltern jedoch zeigten keine Freude oder Verständnis für die uneheliche Schwangerschaft und blieben sogar der Abschlussfeier zum bestandenen Pflege-Examen der eigenen Tochter fern. Ihrer Meinung nach sollte Helen das Kind abtreiben oder heiraten, doch das kam für sie und ihren heutigen Ehemann zu dem Zeitpunkt beides nicht infrage. Ihr späterer Mann studierte in Münster Lehramt und so schrieb auch Helen sich für einige Semester an der Universität in Münster ein, brach das Studium jedoch nach einigen Semestern ab und arbeitete wieder als Pflegefachkraft in der Altenpflege.
Es folgte eine stressige Zeit, denn Helen arbeitete nachts als Dauernachtwache in einem Altenpflegeheim, brachte morgens nach der Arbeit ihr Kind in den Kindergarten, schlief dann ein paar Stunden und holte ihren Sohn wieder vom Kindergarten ab. Sie heiratete den Vater ihres Sohnes als der kleine Sohn 1,5 Jahre alt war. Und obwohl diese Zeit als junge Eltern anstrengend war, liebte sie ihre Rolle als Mutter und wurde 3,5 Jahre später mit ihrer Tochter erneut schwanger. Doch dann schlug das Schicksal zu und ihr Mann erkrankte im Alter von 26 Jahren an Krebs. Schwanger, mit dem zweiten Kind und dem kleinen Sohn an der Hand, besuchte sie ihren Mann im Klinikum auf der Onkologie und versuchte irgendwie nach vorne zu blicken. In dieser Zeit sorgte sie sich nicht nur um die Gesundheit ihres Mannes, sondern auch um die finanzielle Situation der jungen Familie, da sich ihr Mann noch nicht im Referendariats Dienst befand und die verschiedenen sozialen Ämter sie wie einen Pingpong-Ball immer wieder hin und her schickten, aufgrund unklarer Zuständigkeit. Zum Glück besiegte ihr Mann den Krebs und konnte sein Referendariat etwas verspätet aufnehmen. Nach dieser turbulenten Zeit versuchte Helen ihrem Mann den Rücken zu stärken und blieb erst einmal zu Hause bei den Kindern. Während ihr Ehepartner das Referendariat beendete, bekam sie ein drittes Kind, einen weiteren Sohn. Es folgte der Umzug der nun fünfköpfigen Familie von Münster in Westfalen nach Ostfriesland, wo Helens Mann seine erste Stelle als Lehrer antrat. Alle fühlten sich wohl in der neuen Wahlheimat Ostfriesland und so wurde kurze Zeit später ein schönes Einfamilienhaus gekauft, mit großem Garten und ausreichend Platz für alle. Das vierte Kind der Familie (ein weiteres Mädchen) erblickte schließlich das Licht der Welt. Im Alter von nur 30 Jahren waren Helen und ihr Mann stolze Eltern von vier Kindern.
Die Zeit mit ihren kleinen Kindern war nicht immer einfach. Helen und ihr Mann waren junge Eltern, was auch enorme Vorteile mit sich brachte, doch hatten sie kein soziales Netz, welches ihnen helfen konnte, wenn eines oder mehrere der Kinder einmal krank waren. Die eigenen Eltern wohnten weit weg und der Kontakt war seit der ersten Schwangerschaft verständlicherweise deutlich abgekühlt. So blieb Helen ein paar Jahre zu Hause und besuchte eines Tages die berufliche Fortbildung zur Fachkrankenschwester für Palliativ Care, um wieder den Einstieg in das Berufsleben zu finden. Genau zu diesem Zeitpunkt schien ihr Mann erneut einen Krebstumor zu haben. Zum Glück bestätigte sich der schlimme Verdacht nicht, aber Helen erkannte, dass ihr aufgrund der Krankengeschichte und der erneuten Sorge um ihren Mann die nötige Distanz für die Palliativarbeit fehlte. Zu dieser Zeit wurden Kinderkrankenschwestern in der ambulanten Kinderintensivpflege gesucht und Helen entschied sich für einen Probetag. Nach der ersten Hospitation hatte sie wenig Hoffnung, diese verantwortungsvolle Stelle nach der Elternzeit übernehmen zu können, aber sie wollte die restlichen vier vereinbarten Probetage einhalten und fühlte sich von Dienst zu Dienst
wieder sicherer in ihrem Handeln. So entdeckte sie schließlich ihre Faszination für diesen Bereich der professionellen Pflege. In der ambulanten Kinderkrankenpflege konnte sie für die jungen Patient/innen eine viel bessere 1:1 Betreuung gewährleisten, als dies im Krankenhaus oder Pflegeheim möglich wäre. Sie versorgte schwerstpflegebedürftige Kinder und Jugendliche in deren
häuslichen, familiären Umfeld. Die Arbeit bedeutete eine große Verantwortung, denn sie war dort alleine bei ihren jeweiligen Patienten und musste in einer Notfallsituation bis zum Eintreffen des Notarztes selber Entscheidungen treffen und Notfallmaßnahmen leisten. Für Helen war die Schichtarbeit anstrengend, denn wenn sie z.B. Spätdienst hatte und es am nächsten Tag direkt im Frühdienst weiter ging, konnte sie schlecht schlafen, aus Angst zu verschlafen. Oft blieb als Vierfachmama und Kinderkrankenschwester kaum Zeit zur Regeneration oder den nötigen Ausgleich. Immer wieder zeigte sich diese Belastung durch Kopfschmerzen und realistisch erlebte Alpträume in der Nacht über Notfallgeschehen in der pflegerischen Versorgung.
25 Jahre sind inzwischen seit ihrem Examen als Kinderkrankenschwester vergangen und die Situation im Gesundheitswesen wird immer schwieriger. Die Probleme durch den Pflegenotstand nehmen deutlich zu. Viele Kolleg*innen sind frustriert und dauergestresst und wechseln den Beruf, weil sie in
diesem System verheizt werden. Zahlreiche weitere Kolleg*innen befinden sich auf dem beruflichen Absprung. Als Pendant zum Brexit gibt es hierfür den Begriff „Pflegxit“. Unter #pflegxit berichten Pflegefachkräfte in den sozialen Netzwerken über die Gründe ihres Berufsausstiegs. Die Coronapandemie hat die Situation zusätzlich verschlimmert, da viele Jahre der Personalabbau im Gesundheitswesen zur Einsparung der Personalkosten praktiziert wurde. Unter den aktuellen Berufsbedingungen fehlt vielen Pflegefachkräften die Perspektive, ihren eigentlichen Wunschberuf bis zum Renteneintrittsalter ausüben zu können. Hier muss die Politik dringend handeln und sich endlich mehr für das Kranken- und Pflegepersonal einsetzen und somit letztendlich für uns alle. Denn wenn immer mehr Pflegefachkräfte aus dem Beruf flüchten, wer soll dann die pflegebedürftigen Menschen versorgen?
Auch Helen hat sich über ihren weiteren beruflichen Weg immer wieder Gedanken gemacht und studiert inzwischen im 5. Semester in Vollzeit in einem Präsenzstudium Soziale Arbeit. Ihre eigenen Kinder (die bereits selber zum Teil studierten) machten ihr Mut und bestärkten ihre Mutter in diesem Vorhaben. So schrieb sie sich im Alter von 45 Jahren an der Hochschule Emden-Leer für das Bachelorstudium ein. Trotz immer wieder auftauchender Selbstzweifel und Versagensängste, die Bedenken um das Zeitmanagement und der Tatsache, dass Helen für einen eigenen BAföG-Anspruch zum Zeitpunkt der Immatrikulation bereits jenseits der Altersgrenze war, entschloss sie sich für das Studium. Zur Finanzierung arbeitet sie in Teilzeit weiter als Kinderkrankenschwester, aber die guten
Noten motivieren und sie weiß, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat. Helen hat sich ganz bewusst für ein Studium in Soziale Arbeit entscheiden, da das Arbeiten in einem sozialen Bereich mit anderen Menschen ihren Gaben entspricht. Die Verdienstmöglichkeiten sind leider überschaubar, aber sie hat die Aussicht in einigen Tätigkeitsfeldern der Sozialen Arbeit ohne Schichtdienst bis ins Rentenalter und vielleicht sogar im öffentlichen Dienst arbeiten zu können. Sie wird in diesem Bereich im nächsten Jahr bei einem öffentlichen Amt ein 6-wöchiges Praktikum absolvieren, aber auch eine Tätigkeit in der Schulsozialarbeit könnte sich Helen sehr gut vorstellen. Wenn Helen auf ihr bisheriges Leben zurückblickt, dann befürwortet sie nach wie vor, bereits in jungen Jahren Kinder bekommen zu haben. Ihr Mann und sie haben ein gutes und vertrautes Verhältnis zu ihren zwei Töchtern und zwei Söhnen. Sie verbringen gerne Zeit zusammen und das bedeutet Helen sehr viel. Aber sie sagt auch, dass es mit jedem Kind schwieriger wurde mit dem Familienmanagement und der Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf durch fehlende, zeitlich flexible Betreuungsangebote. Kritisch sieht sie inzwischen auch das Ehegattensplitting, da es besonders die Frauen in ein altes Rollenmuster zwingt, welches dringend reformiert werden muss.
Überhaupt braucht es mehr Mut zur Veränderung und zur Akzeptanz. So stellt sie sich die Frage, warum der Studienausweis bei einem jungen Menschen gewisse Vorteile wie z.B. im Museum oder bei einem Abo bringt, aber bei einem älteren Menschen häufig nicht anerkannt wird. Frauen sollen und müssen sich noch mehr einbringen dürfen und im Gegenzug sollten auch die Männer mehr Möglichkeiten bekommen (ohne Angst vor beruflichen Nachteilen) Elternzeit zu nehmen und ihren Part der Elternschaft aktiv auszuüben. Es braucht noch sehr viel Veränderung und vor allem den politischen und gesellschaftlichen Willen dazu.